Am Bahnsteig sehe ich einen Herrn vor dem Zug stehen, der den Halt am Hauptbahnhof für eine Zigarettenpause zu nutzen scheint. Seine Kleidung wirkt, als wäre sie in einem teuren Herrenausstatter zusammengestellt worden. Für einen Moment sehe ich vor mir, wie ihn Verkäufer/innen motiviert und ausgelassen kichernd, zuverlässig in der Aufwertung seines Äußeren beraten. Der Glanz der braunen Lederschuhe versprüht eine Eleganz, die in einem auffallenden Kontrast zur Zigarettenasche steht, die der Wind unbemerkt auf seine Schulter weht. Passend zum Halstuch, welches künstlerisch im Kragen trappiert ist, findet sich in der Tasche des Jackets ein Einstecktuch. Beim näheren Hinsehen lässt der bunte Stoff an ein Kostüm aus der Zirkusmanege denken. Mit einem ernsten Blick schaut er durch ein extravagantes Brillenmodell, das ihm sicher innerhalb einer erst kürzlich zurückliegenden Gleitsicht-Brillenberatung empfohlen wurde. Das Haar gefärbt, steht er auf Bahnsteig elf und sieht in die Ferne. Seine ganze Erscheinung fängt nun an, sich zu einer Anhäufung von Übertünchungen zu verwandeln. Eine nur schwer auszuhaltende Hilflosigkeit scheint durch die Knopflöcher des hellblauen Hemdes zu wabern. Die Ernsthaftigkeit im Gesicht unterstreicht diesen Eindruck und findet sich im angespannten Ziehen an der Zigarette wieder. Kurz frage ich mich, ob dieses zügige Inhalieren zu Ohnmachtsgefühlen führt und bemerke, wie der Gedanke einen leichten Schwindel in meinem Kopf aufkommen lässt. Der Schaffner kündigt mit Pfeifen die Abfahrt des Zuges an. Der Herr schnipst nahezu gleichzeitig, wie einstudiert die Zigarette weg. Das achtlose Entsorgen seines Restmülls auf dem Gleis stößt mich derart ab, dass ich kurz davor bin, ihn zur Rede zu stellen. Als ob er davon wüsste, verschwindet er nach Eintreten in den Zug auf die Toilette. Davor zu warten erscheint mir etwas überambitioniert. Ich beschließe ein wenig schwermütig diese Unachtsamkeit auf sich beruhen zu lassen und suche meinen Platz.
30.05.2020
~ Leipzina
Veröffentlicht von Leipzina
Etwas von mir zu erzählen, das fiel mir noch nie schwer, hier die richtigen Worte zu finden, das ist dennoch eine kleine Herausforderung. Vielleicht zunächst das Wichtigste für diese Seite: Ich schreibe gern. Für mich ist das Schreiben wie die „Erschaffung“ eines kleines Ausschnitts, ja eines Fensters, in meine Wahrnehmung und mein Erleben. Dabei macht es mir große Freude auf die Suche nach den richtigen Worten zu gehen. Das Beschreiben mag ich sehr. Auch und besonders weil es die Phantasie so wunderbar antreiben, bereichern, damit auf besondere Weise berühren und etwas in Bewegung bringen kann. Alle Beiträge von Leipzina anzeigen
Ha, solche Typen habe ich (auch) gefressen. Und dann telefonieren sie im Abteil laut mit ihrer Sekretärin, devot mit der Ehefrau und gesäuselt mit der Geliebten, ha!
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